Autorin Dr. Regina Reinart / Copyright: Franz Schmitt Verlag / Studia Instituti Missiologici SVD / Steyler Missionswissenschaftliches Institut
Über die Munduruku existiert erfreulicherweise eine umfangreiche Literatur im Hinblick auf ihre Sprache. So hat sich bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Franziskaner Chrysostomus Strömer den Munduruku gewidmet. Von seiner ersten Forschungsreise an den oberen Tapajós im Jahr 1929 kam er mit einem umfassenden Bericht zurück. Er registrierte 1751 Wörter, Wortformen und Wortgruppen, ein Verzeichnis von weiteren 702 Nummern linguistischer Feststellungen, 56 handschriftliche Seiten an Prosatexten und 24 an mythologischen Hymnen, sowie sonstigen Liedern und Gesängen, ferner eine Fülle mannigfaltiger, teilweise hochwichtiger technologischer Aufzeichnungen, endlich eine reichhaltige Sammlung von völkerkundlich aufschlussreichen Gegenständen: so lautete die Bilanz! (Strömer 1932: V) Die Lektüre dieses in deutscher Sprache wohl ersten linguistischen Nachschlagewerkes (8) macht sehr schnell deutlich, dass die Sprache der Munduruku eine „primitive Sprache“ (ebd.: 103) ist. So wird nicht zwischen bestimmten und unbestimmten Artikeln unterschieden. Die Personalpronomina sind gleichzeitig Possessivpronomina. Relativpronomen gibt es nicht und – abhängig von dem jeweiligen tonalen Zusammenhang – werden die Zeitformen entsprechend interpretiert. In Bezug auf Zahlwörter unterscheiden die Munduruku nicht zwischen Grundund Ordnungszahlen. Auch gibt es nur Wörter von eins bis vier, ab fünf werden Hände und Füße zur Erweiterung des Zahlenraumes verwendet. Hier kurz dargestellt: pã – eins, šepšep – zwei, ebapã – drei, baririp – vier. Für fünf wird der Begriff der gespreizten Hand (pãrõbi) benutzt, die weiteren Zahlen werden mit weiteren Fingern gezeigt und für die Zahl zehn (suat põbi) werden die zwei gespreizten Hände gezeigt, für zwanzig kommen die Zehen (suat põ) noch dazu (vgl. Strömer 1932: 111113). Größere Mengen können die Munduruku anhand von annähernden Rechenaufstellungen und Schätzungen vornehmen, die oftmals auch den exakten Werten entsprechen. Diese linguistischen Besonderheiten sind nicht ohne Bedeutung für die gesamte Diskussion über sowohl territoriale Ansprüche und Forderungen als auch der eigenständigen Interessenvertretung der Munduruku im Kontext der Sicherung ihrer Land-, Menschenund Umweltrechte. Sprache als Vehikel für die Verbreitung der eigenen Interessen ist bedeutsam, wenn nicht sogar entscheidend für den Erfolg der jeweiligen Konfliktlösungen. Im Kontext der Evangelisierung stellt sich der Dialog über beispielsweise die neutestamentlichen Gleichnisse, in denen Zahlen vorkommen, als interessant dar. Doch sowohl das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1-16) als auch die Auferstehungsszene am See von Tiberias (Joh 21,1-14) sind für die Munduruku leicht zugänglich, nicht zuletzt aufgrund deren Verständnis von Gerechtigkeit und der eigenen Erfahrung vom tagtäglichen Fischfang. Dennoch können trotz Berücksichtigung von Sprache und Kultur die jeweiligen Missionare und Missionarinnen auch auf Grenzen stoßen.9 Weitere Standardwerke zur Sprache der Munduruku (Gramática Munduruku und Aspectos da Língua) stammen von Marjorie Crofts, die in den 1960er-Jahren Vokabellisten erstellte und sich mit literarischen Urtexten der Munduruku wissenschaftlich auseinandersetzte. Sie betrieb umfangreiche Feldforschung, arbeitete eng mit der Franziskanermission am Rio Cururú sowie dem Nationalmuseum in Rio de Janeiro zusammen und hielt die Ergebnisse in aufschlussreichen Formularen fest (Crofts 1960). Die von ihr untersuchten Originale der Aufzeichnungen des Vokabulars der Munduruku befanden sich z. T. im völkerkundlichen Archiv dieses 200 Jahre alten Museums, welches bedauerlicherweise durch einen verheerenden Großbrand im September 2018 zerstört wurde. Dieser Brand wird zu Recht von Gegner(inne)n des derzeitigen Wirtschaftsmodells Brasiliens als symptomatisch für die Vernachlässigung des Erhalts und der Würdigung eigenen Kulturguts interpretiert. Auf nationaler und internationaler Ebene löste der Brand Bestürzung und Wut aus. Schätzungsweise 20 Millionen Exponate, die über mehr als elf Jahrtausende brasilianischer Geschichte repräsentieren, sind für immer verloren gegangen. Darunter befanden sich indigene Artefakte von unschätzbarem Wert, mit deren Vernichtung ein Großteil indigener Geschichte unwiederbringlich ausgelöscht ist. Die gänzliche Zerstörung der hier aufbewahrten, national und international einmaligen Sammlung indigener Sprachzeugnisse mit insgesamt über 40.000 Objekten von ca. 300 indigenen Völkern und das zerstörte Dokumentationszentrum für indigene Sprachen Centro de Línguas e Interculturalidade (CELIN) wird treffend als Linguizid bzw. Epistemizid bezeichnet (vgl. Urutau 2018), da das kollektive und historische sprachliche Gedächtnis der brasilianischen Ureinwohner(innen) und damit wichtiges indigenes Wissen für immer vernichtet wurden. Während Strömer die Sprachen Munduruku und Tupi noch als „sprachliche Schwestern“ (Strömer 1932: 10) bezeichnete, hält sich Crofts an die Klassifizierungen der Anthropologen und Sprachwissenschaftler McQuown und Rodrigues, die Munduruku als eine von vielen Tupi-Sprachen festlegen (vgl. Crofts 1973: 2). Dies wird auch heute in offiziellen Nachschlagewerken so vertreten (vgl. Dixon 2006). Crofts ging vor knapp sechzig Jahren noch davon aus, dass die Sprache und die dazugehörigen Dialekte nur von ca. 1.200 Munduruku gesprochen werde. Heute sind es mehr als zehnmal so viele. Laut offiziellen Angaben zählte das Volk der Munduruku und dessen Untergruppen Maytapu, Cara Preta und Wuyjuyu im Jahre 2014 genau 13.755 Mitglieder (vgl. PIB 2014). Dass sie sich als ein Volk bezeichnen und weiterhin für ihre Rechte als „rote Ameisen“ kämpfen, wird in einem offenen Brief an die brasilianische Regierung deutlich. Hierin beschreibt das Volk der Munduruku als Ganzes seine Kultur und Lebensweise, zeigt Willen zum Widerstand und fordert seine Rechte ein (vgl. PIB 2013). Eine Analyse dieses Briefes bestätigt Crofts detaillierte Darstellung der Syntax, der Struktur ihrer Kommunikation und des Inhalts der Diskurse, an diesen Besonderheiten der Sprache hat sich auch mit steigender Zahl der Munduruku nichts geändert. Die Anzahl der Indigenen, die sowohl Munduruku als auch Portugiesisch beherrschen, hat sich mit den Jahren geändert. Immer mehr Mitglieder dieses indigenen Volkes, vor allem die männlichen, jüngeren und in der Stadt lebenden Munduruku, nutzen zwar im Alltag unter sich ihre Muttersprache, sehen aber ebenso die Landessprache als die ihrige an. Nur die in isolierten Gemeinden lebenden hauptsächlich älteren Männer sowie Frauen und Kinder verwenden immer noch ausschließlich Munduruku. Der Historiker Karl Heinz Arenz SVD, der als Universitätsprofessor in Belém studierende Munduruku unterrichtet und Kontakte zu indigenen Flussanrainer(inne)n pflegt, betont die Bedeutung einer Revitalisierung der Sprache der Munduruku. In einem Interview10 beschreibt er die Völker in seiner Region des Amazonasgebietes, unter ihnen vor allem die Wai-Wai und die Kaxuyana, auch als banda sul bekannt, dann die Munduruku des Oberen Tapajós sowie die Flussanrainer(innen) des Unteren Tapajós und des Flusses Arapiuns. Letztere identifizierten sich bereits Ende der 1990er-Dekade im Rahmen eines komplexen Prozesses der Ethnogenese mit den Völkern Amerindias: den Arapium, den Borari, den Tapajó, den Tupinambá, den Maitapu und den Jaraqui. Die Erfahrung von Arenz zeigt: Jugendliche dieser „Völker des Widerstands“ beherrschen im Allgemeinen fließendes Portugiesisch, da es ihre Muttersprache ist, sind aber daran interessiert, das Nheengatu, die Lingua franca im Amazonasgebiet von der Kolonialzeit bis Mitte des 19. Jahrhunderts, wiederzubeleben. (Arenz: Interview) Umgekehrt besteht allerdings auch Interesse bei Nicht-Munduruku, die Sprache zu erlernen. Hierzu hat Crofts schon in den 1980er-Jahren ein praktisches Lehrbuch mit jeweiligen Vokabellisten, kulturellen und grammatikalischen Aspekten sowie Dialogund Konjugationsübungen herausgebracht (vgl. Crofts 1985) und dieses 2004 überarbeitet (vgl. Crofts 2004). Fast 80 Übungen schließen sich an den allgemeinen Teil der Erklärung der Munduruku-Sprache an. Ein beeindruckendes Werk, das bis heute als Standardwerk für Lernende gilt. Crofts betont dabei, dass ihr Buch lediglich als Grundlage dienen soll, die Sprache als solche könne nur im aktiven Kontakt mit den Munduruku erlernt werden, insbesondere auch aufgrund der sich lediglich tonal erschließenden Bedeutungen der Sprache. So ermöglicht allein die Kenntnis um den jeweiligen Tonfall die jeweils korrekte Interpretation der Wörter. Hier einige Beispiele: ajojot kann „wir haben gesehen“ oder aber „Großvater“ bedeuten, wuykat meint „guten Tag“ oder „unser Bauernhof“, ay verweist auf eine Art Meerschweinchen (sogenanntes Paka, lat. Cuniculus) oder aber auch „Faulheit“, ipi heißt „es schmerzt“ oder „Erde“, ihi bezeichnet den Winter oder aber auch eine Art Affe (sogenannter Nachtaffe oder nachtaktiver Affe, lat. Aotus) und schließlich beschreibt iyu entweder etwas Salziges oder etwas Leichtes (vgl. ebd.: XIX). Das Konzept der Gemeinschaft spiegelt sich auch in der Nutzung der Sprache wider: Oftmals werden die eigentlichen Namen der Personen nicht genannt, stattdessen die Beziehungsangabe zu der jeweiligen Person. Die Frau, die mit ihrem Kind zum Arzt geht, um Medizin für ihren Mann abzuholen, bittet weder um Medikamente für ihren Mann noch für z. B. Johannes, sondern für „den Vater dieses Kindes“ (ebd.: 10). Die portugiesischsprachigen Namen werden nur selten genannt, wenn das Volk unter sich ist. Die Vornamen der Munduruku werden auch nicht genutzt, um die Person zu rufen, stattdessen immer die jeweiligen Beziehungsnamen wie „mein Sohn“, „meine Tochter“, „unser Vater“, „unsere Schwester“ etc. (vgl. Crofts 2004: 51-54).11 Für die Munduruku hat die Familie einen sehr hohen Stellenwert, in Gesprächen erkundigen sie sich zuallererst nach der Familie der Gäste, den Namen der Familienmitglieder, wo diese sich gerade aufhalten und wie es ihnen geht (vgl. ebd.: 13). Diese Fragen sind prioritär und zeigen die zentrale Rolle der Familie für die Munduruku. In Bezug auf den eigenen Körper sind die Munduruku sprachlich sehr explizit, sodass sie für die einzelnen Körperteile bis hin zu den Haarpartien der jeweiligen Glieder explizit eigenes Vokabular haben (vgl. ebd.: 47). Im Gegensatz zu den in unserer Kultur üblichen Gepflogenheiten, wo der Gang zur Toilette oft mit verschleiernden Floskeln nicht mehr als angedeutet wird, ist den Munduruku diese Scham gänzlich fremd, was keineswegs mit Unhöflichkeit zu tun, sondern vielmehr mit Gewohnheit und womöglich aus uralten Zeiten herrührt, als sie zum persönlichen Schutz angaben, wohin sie gingen (vgl. ebd.: 5, 51). Hinsichtlich der Erfahrung der Umwelt sowie der Natur haben die Munduruku eine intime Beziehung sowohl zur Pflanzenals auch zur Tierwelt. Sie leben von der Jagd, dem Fischfang und vom Sammeln von Wurzeln, Früchten und Beeren. Auch pflanzen sie mancherorts Maniok, Mais, Süßkartoffeln, Bananen und Reis sowie Tabak an. Viehhaltung ist eher eine Seltenheit. Ihre zur Jagd sowie zur Bewirtschaftung der Landflächen notwendigen Werkzeuge stellen sie zum größten Teil selbst her, seien dies Speere, Äxte, Pfeile und Bögen. Aber auch Körbe und Vasen bis hin zu Spielzeug produzieren die Munduruku selbst. In Crofts Übungsbuch zum Erlernen der Munduruku-Sprache werden in den einzelnen Kapiteln kulturelle Aspekte gezeigt, die in die Konzepte von Gemeinschaft, Umwelt und Natur sowie die Wahrnehmung von Zeit Einblicke geben: Es ist interessant, dass die Munduruku die Tage – insbesondere einer Reise – mit dem Wort xet zählen, was der Wortwurzel des Verbs „schlafen“ gleichkommt. Es scheint, als würden sie von vergangener Zeit im Sinne von Nächten denken. In den Geschichten, die sie erzählen, nutzen sie ebenso xet, um zu betonen, dass ein Tag vorbei ist und wiederholen dies jeweils für jede Nacht, die vorbeizog, z. B. xet xet xet ojem – es vergingen drei Nächte, dann ging er raus. Auch verlängern sie eine Silbe, um das Wort zu betonen: kuy je – früh am Morgen, kuy jeeee – sehr früh am Morgen, […], bo ma ku – dort, booooo ma ku oder bo maaaaaa ku – sehr weit dort. (Crofts 2004: 276) In die Lerneinheiten sind Munduruku-Legenden integriert sowie kurze Dialoge über das Jagen, das Zubereiten von Bananen, Papayas, Açaí-Beeren und vielen weiteren Früchten, das Ernten von Maniok und Gemüsesorten und schließlich das Herrichten von Mahlzeiten. Zum Verständnis des Weltbilds sind diese Aspekte von Bedeutung, denn die Sprache ist Ausdruck des Wahrnehmens und Erlebens der Realität. Festzuhalten und auffällig ist, dass die Munduruku für das Verb „sein“ gleich mehrere Wörter haben, um die eigene Existenz und die Existenz der Umwelt auszudrücken. Eines der Wörter für „sein“ ist dip, was der Wortwurzel „schön“ gleichkommt und – laut Crofts – einen Ortsbezug aufweist, der mehr mit Permanenz als mit einem temporären Platz zu tun hat (vgl. ebd.: 155). Die Verbindung zwischen dem Dasein der Munduruku, dem Ort ihres Seins und der Schönheit könnte durchaus für die Beziehung zu bzw. die Identifizierung mit dem jeweiligen Territorium der Munduruku von Bedeutung sein. Aufschlussreich sind auch Gliederungen, die Crofts vornahm. So klassifizieren die Munduruku Sterne als Samen, „womöglich weil sie wie Samen für sie [die Munduruku] aussehen“ (Crofts 2004: 90).
8 Ein vom Autor signiertes Exemplar befindet sich in der Bibliothek von missio in Aachen.
9 Vgl. hierzu die Darstellung der Missionserfahrung von Daniel Everett unter dem indigenen Volk der Pirahã, die u. a. keine Namensgebung für Farben haben. Alle Anstrengungen von Everett in Sachen des Leseund Schreibunterrichts sowie der Evangelisierung führten dazu, dass er schließlich als „bekennender Atheist“ (Piepke 2020: 488) sein Missionsleben aufgab
10 S. das Gesamtinterview mit Karl Heinz Arenz im Anhang 1.2. 11 Crofts führt in mehreren Lektionen die verschiedenen Sprechweisen über die jeweiligen Familienmitglieder auf, auf Originalzitate wird hier aufgrund der umfangreichen und überwiegend Munduruku-Vokabeln verzichtet