Autorin Dr. Regina Reinart / Copyright: Franz Schmitt Verlag / Studia Instituti Missiologici SVD / Steyler Missionswissenschaftliches Institut



Das in den drei Bundesstaaten Amazonas, Pará und Mato Grosso beheimatete Volk der Munduruku wird seit Ende des 18. Jahrhunderts von dem benachbarten Volk der Parintintins aufgrund ihrer roten Bemalung und ihres traditionell kriegerischen Auftretens als „rote Ameisen“ bezeichnet (ISA und PIB 2018). Die Munduruku scheinen heute ausschließlich damit beschäftigt zu sein, ihre Territorien vor Goldschürfern und Großprojekten wie Wasserkraftwerken und Staudämmen etc. zu sichern. Auch setzten Straßenbauprojekte den Munduruku zu, so z. B. die Autobahn BR-230, die bekannte Transamazônica. Hier leben sie oftmals unter prekärsten Verhältnissen am Straßenrand. Der Bau der Transamazônica, so versprach es der Staat, sollte zur Integration der Indigenen führen, wobei der Begriff „Integration“ hier fragwürdig ist. Denn in Wahrheit öffnete dieser Tropen-Highway lediglich den Markt für eine expandierende Wirtschaft. Für indigene Völker wie die Munduruku führte er in manchen Regionen „zum Verlust der Identität als ein Volk und ermöglichte die Ausbeutung der von ihnen besiedelten Territorien“ (Munduruku 2000: 83). (4) Die Auseinandersetzung mit dem Wort „Integration“ der Indigenen in die brasilianische Gesellschaft gehört zur Kerndiskussion, die sich einschneidend zu Zeiten der Militärdiktatur beobachten lässt. Eine berechtigte Fragestellung findet sich bei Menchén: „Ist der […] auf diese [durch Bodenspekulanten verursachte] Invasion gänzlich unvorbereitete Indianer (5) nicht rettungslos seinem Schicksal des ewig Schwächeren verfallen?“ (Menchén 1979: 216). Menchén schildert auf prägnante Weise die Debatte: Einer der erfahrensten Männer des FUNAI, der 65-jährige Francisco Meirelles – er pazifizierte die Chavante, Caymora, Cuirura, Cayapó und Cinta Larga –, erklärte im August 1973: „Wer gibt uns das Recht, eine bestimmte Rasse von Gütern auszuschließen, von denen die ganze Menschheit Gebrauch macht? Warum sollen sich menschliche Wesen weiterhin die Nase durchbohren oder die Lippen deformieren und in anderer Weise primitiv leben, wenn sie sehen, daß es auch besser gehen kann? Die Indianer selbst wollen an der weißen Zivilisation teilhaben und nicht Museumsstücke sein, über die gescheite Leute Bücher schreiben.“ Das […] liefert doch der offiziellen Indianerpolitik des Militärregimes die Argumentationsfassade, hinter der noch rücksichtsloser [ein] altes Indianerrecht „im Namen des Fortschritts“ ad acta gelegt wird. „Wir wünschen ihre schrittweise Eingliederung in unsere Gesellschaft“, erklärte Innenminister Costa Cavalcanti während eines Seminars für FUNAI-Angestellte und Missionare aller Glaubensrichtungen 1973, „daß sie an unserem Wirtschaftsleben teilhaben, denn auf der anderen Seite wird der Prozeß der Entwicklung in der Zukunft keinen Indio in seiner gewohnten Umgebung sein gewohntes Leben fortführen lassen!“ Der Auftrag für die Nationale Indianerstiftung FUNAI ist klar und deutlich; wieder einmal lautet die Zauberformel: Integration. Dr. Noel Nutel, ehemaliger SPI-Chef,(6) erklärte […]: „Der integrierte Indianer ist ein Mensch, den wir gewaltsam aus einer Gesellschaft herausgerissen haben, in der er der erste war, um ihn in unserer Gesellschaft an den letzten Platz zu stellen.“ (Menchén 1979: 216 f.) Nicht viel hat sich in der Debatte verändert. Diskriminierende Worte im Namen eines vermeintlichen Fortschritts der Indigenen, dem sogenannten etnodesenvolvimento, äußerte Bolsonaro im Rahmen einer Gesetzesunterzeichnung zur Freigabe indigener Territorien für industrielle Großprojekte, von denen viele in Amazonien liegen und mit entsprechend zu erwartenden Negativfolgen für Indigene einhergehen: „Der Ureinwohner ist ein Mensch, genau wie wir, hat ein Herz, hat ein Gefühl, hat eine Seele, hat ein Verlangen, hat Bedürfnisse und ist so brasilianisch wie wir“ (Latinapress Nachrichten 2020). Zur Verortung der Munduruku (siehe Karte) lassen sich folgende Regionen im Bundesstaat Amazonas nennen: sie besiedeln Gebiete an den Flüssen Canumã und Madeira. In Mato Grosso finden wir die Munduruku am Fluss Rio dos Peixes und in Pará hauptsächlich am mittleren Fluss Tapajós.

Hier – am Tapajós – habe ich sie mehrmals im Kontext des Widerstands und der internationalen Kampagne gegen den Bau des Staudamms in der Nähe der Stadt Itaituba besucht. Derzeit wird das in Planung befindliche Bauprojekt nicht weitergeführt, jedoch kann es jederzeit wieder reaktiviert werden. Was dies bedeuten würde, kann am Beispiel des drittgrößten Staudamms der Welt, des Großstaudamms Belo Monte am Fluss Xingu, westlich des Rio Tapajós gelegen, leicht nachvollzogen werden. Hier wurden 500 Quadratkilometer Fläche überschwemmt. Zum Vergleich: Der Bodensee hat eine Gesamtfläche von ca. 540 Quadratkilometern. Im Falle einer Staumauer am Tapajós würde die gesamte überschwemmte Fläche dem Bodensee, dem Müritzund dem Chiemsee zusammen entsprechen, etwa 730 Quadratkilometern. Im Kontext von Belo Monte wurden ca. 40.000 Personen vom Energiekonzern Norte Energia umgesiedelt. Viele von ihnen leben seither in den billig erbauten und für die Region völlig ungeeigneten Häusern, die kurz nach Erstbezug schon Baumängel aufwiesen. Es gab viele weitere Vertriebene, laut Schätzungen haben in etwa 10.000 Menschen die Städteregion der ca. 100.000 Einwohner(innen) zählenden Stadt Altamira verlassen müssen, um andernorts mehr schlecht als recht zu überleben. Die Menschenrechtsverletzungen an den indigenen Völkern, insbesondere der Kayapó und Jurana, sowie die Umweltzerstörung, die Belo Monte mit sich brachte, sind unermesslich. Seit 2011 im Bau, sollte der Staudamm Belo Monte ab 2019 voll in Betrieb sein und eine Spitzenleistung von 11.200 Megawatt haben (vgl. Kleiber und Russau 2014: 10). Dies entspricht dem Strombedarf von ca. 60 Millionen Personen. Die Ironie dabei ist, dass die Stadt Altamira und die umliegende Großregion bisher weder eine ausreichende Stromnoch eine angemessene Wasserversorgung haben. Auch gibt es keine regulierte Abwasseraufbereitung, obschon diese dem o. g. Energiekonzern seitens der staatlichen Umweltbehörde Instituto Brasileiro do Meio Ambiente e dos Recursos Naturais Renováveis (IBAMA) auferlegt wurde. Ebenso hatte Norte Energia Entschädigungen, Infrastrukturmaßnahmen und Begünstigungen versprochen, doch diese wurden bisher nicht zufriedenstellend umgesetzt. Es wurden zwar Schulen und ein Krankenhaus in Altamira gebaut, diese sind jedoch bis heute nur teilweise und nicht zufriedenstellend in Betrieb genommen worden. Stattdessen führte der Staudammbau dazu, dass die Indigenen und die Flussanrainerfamilien nicht mehr von ihrer Lebensader, dem Xingu, leben können. So sind vor allem die Fischerfamilien durch das wachsende Fischsterben aufgrund von mangelndem Sauerstoffgehalt im Wasser ihrer Lebensgrundlage beraubt. Der starke Widerstand aus der betroffenen Bevölkerung hat weltweit für Aufmerksamkeit gesorgt. Stellvertretend hierfür steht neben dem aus Österreich stammenden und mittlerweile emeritierten Bischof Dom Erwin Kräutler auch die Präsidentin der lokalen Bewegung Movimento Xingu Vivo Para Sempre, Antonia Melo, die sich als starke Frau, sozusagen als „Mutter Courage“, unermüdlich in ihrem Engagement gegen das von ihr als „Belo Monstro“ bezeichnete Projekt zeigt (Zanchetta und Villela 2016). Sowohl Kräutler als auch Melo setzen sich für eine nachhaltige Entwicklung ein, insbesondere am Fluss Xingu. Beide wurden mit zahlreichen Menschenrechtsund Friedenspreisen ausgezeichnet. So erhielt Melo im Jahre 2006 den Menschenrechtspreis der brasilianischen Menschenrechtsbewegung Movimento Nacional de Direitos Humanos (MNDH) und 2017 den Alexander-Soros-Preis der gleichnamigen US-amerikanischen Stiftung. Die Liste der Preise, inklusive der Ehrendoktorwürde, von Kräutler ist lang, zu nennen ist vor allem der Alternative Nobelpreis im Jahre 2010. Aber auch die Solidarität zwischen den indigenen Völkern ist groß. Es gab viele Protestmärsche und -aktionen. So besetzten z. B. Vertreter(innen) der folgenden zehn Ethnien der Munduruku, Kayabi, Xikrin, Arara, Juruna, Kayapó, Xipaya, Kuruaya, Asurini und Parakanã das Baugelände von Belo Monte, bezogen sich auf ihre Rechte und mahnten in einer öffentlichen Erklärung Ende Mai 2013 mit den folgenden, starken Worten: „Wir gehen hier nicht weg. Ihr werdet hierher kommen, um zu töten. Und wir werden hierbleiben, um zu sterben. Wir werden hier nicht weggehen, ohne angehört zu werden” (Kleiber und Russau 2014: 19). Trotz aller Aufrufe, Petitionen, Bewegungen und Proteste setzt die brasilianische Wirtschaftspolitik weiter auf derartige Großprojekte. Allein am Fluss Tapajós und seinen zwei Zuflüssen Juruena und Teles Pires sind insgesamt achtzehn Staudämme geplant. Das Überfluten von Naturparks, indigenen Territorien und Reservaten mit ihrer jeweils einzigartigen Biodiversität ist nur eine der Negativfolgen. Ein Staudammbau bringt den notwendigen Bau von Stromtrassen für die erzeugte Elektrizität mit sich, welcher weitere Umweltzerstörung nach sich zieht (vgl. ebd.). Die Situation am Xingu kann also durchaus auf die des Tapajós übertragen werden, sollten die geplanten Staudämme gebaut werden. Mit diesen monströsen Großbauvorhaben werden dann weitere Völker ihrer Identität und Lebensgrundlage beraubt, insbesondere die Munduruku. Damit geht auch ihre diversifizierte soziolinguistische Kultur verloren. In Dörfern wie dem bekannten Sai Cinza (vgl. ISA 2019) mit heute ca. 1.800 Indigenen und einem 1.260 Quadratkilometer großen Territorium, welches in etwa der Fläche der Metropole Rio de Janeiro gleichkommt, sowie in anderen Siedlungen an den Nebenflüssen des Tapajós (Cururú, Cabitutu und andere) hat sich bisher die Kultur der Munduruku bewahren können. Andere Dörfer, insbesondere diejenigen, welche näher an den Städten Itaituba und Santarém liegen, lassen einen starken Einfluss der portugiesischen Sprache und industrialisierten Lebensform erkennen, sodass die jüngere Generation oftmals weniger gut die eigene Muttersprache beherrscht und auch mit den spezifischen indigenen Riten und Bräuchen weniger vertraut ist. Historisch lassen sich erste schriftliche Aufzeichnungen der Kolonialmächte über die Munduruku aus der Mitte des 18. Jahrhunderts nachweisen (vgl. ISA und PIB 2018). Im Jahre 1768 bezeichnete der Pfarrer José Monteiro de Noronha die Indigenen, die sich am Flussufer des Rio Maué, einem Seitenfluss des Rio Madeira, aufhielten, als „Maturucu“. Heute wissen wir, dass sie zu der Familie der Munduruku gehörten und auf dem im Jahre 2001 demarkierten und schließlich ihnen ganz zugesprochenen Territorium, der sogenannten „Terra Indígena Coatá-Laranjal“, lebten. Die Region des Tals Tapajós ist auch als „Mundurukânia“ bekannt. Hier leben sie als Flussanrainerfamilien in kleinen Gemeinden, wie z. B. in Mamãeanã, São Luís und Pimental. In Letzterem – eine Stunde Bootsfahrt von Itaituba entfernt – konnte ich mir vom Leben der Munduruku im 21. Jahrhundert ein Bild machen. Der Tapajós ist ihre Lebensader, von ihm und mit ihm leben sie, auf ihm bewegen sie sich flussaufund abwärts. Ihre Frauen und Kinder sind dank des staatlichen Indigenengesundheitsdienstes Secretaria Especial de Saúde Indígena (SESAI) bislang verhältnismäßig gut versorgt. Dass sich diese Gesundheitsversorgung unter dem anti-indigenen Präsidenten Bolsonaro verschlechtern würde, zeichnete sich bereits in den ersten Monaten nach seinem Amtsantritt durch Budgetkürzungen im indigenen Sektor ab. Die Vertreter(innen) der jeweiligen bischöflichen Fachstellen für Landfragen sowie für Indigene (7) berichteten von Bedrohungen und gewaltsamen Übergriffen und der finanziellen Schwächung der SESAI und der FUNAI seitens des Staates. Das Volk der Munduruku ist seit Beginn der Kolonialisierung als Kriegervolk bekannt und nimmt auch die aktuellen Bedrohungen nicht ohne Widerstand hin. Geschichtlich haben die anfänglichen Auseinandersetzungen mit der Kolonialmacht, in denen sich die Munduruku resilient zeigten, das Volk geprägt. Damals wurden die langjährigen Konfrontationen schließlich mit Friedensvereinbarungen, den sogenannten acordos de paz, zwischen den Anführern der Munduruku und den Kolonialmächten Ende des 18. Jahrhunderts beendet, vor allem in der Region um Santarém. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dominierte die Kautschukund Gummiindustrie die Region. Dies trug folglich zur Besetzung der indigenen Territorien durch Nicht-Indigene bei. Arbeitsmigrant(inn)en aus dem Nordosten Brasiliens ließen sich nieder. Hiermit begann eine allgemeine Vertreibung indigener Völker im Amazonasgebiet, somit auch der Munduruku, deren Leben seither von Konflikt geprägt ist.


4 Originaltext: „[…] a perda de sua identidade como povo e a possibilidade de explorar a terra antes por eles habitada.“

5 Menchén verwendet noch diesen Begriff, der aufgrund des Zitats hier beibehalten wird.
6 Hier handelt es sich um den sog. Dienst zum Schutz der indigenen Völker, den Serviço de Proteção aos Índios, s. Kapitel II, Abschnitt 2.4.

7 Die jeweiligen Fachstellen für Landfragen sowie für Indigene sind die Landpastoral, die sog. Comissão Pastoral da Terra – CPT und der Indigenenmissionsrat, der sog. Conselho Indigenista Missionário – CIMI. Abkürzungen mit mehr als drei Buchstaben werden in Brasilien in der Regel kleingeschrieben, somit besteht die Abkürzung CPT nur aus Großbuchstaben, während die Abkürzung des CIMI bei brasilianischer Schreibweise Cimi heißen müsste. Im deutschen Text wird jedoch zwecks unmissverständlicherer Leseweise CIMI beibehalten.